Beginnen wir mit einem typischen Fall aus der Praxis, der lediglich zwecks Straffung aus mehreren Fällen zusammengefasst wurde: Eine Mutter erscheint mit ihrem neunjährigen Sohn in der Praxis eines Kinder oder HNO-Arztes. Sie schildert die Lese-Rechtschreib-Probleme des Jungen im Deutschunterricht, der in den übrigen Fächern gute Leistungen erbringt. Sie äußert ihre eigene Vermutung, dass ihr Kind vielleicht ... nicht richtig hört", weil es beispielsweise bei Diktaten im stets etwas unruhigen Klassenraum häufiger nachfragen muss und dennoch viele Fehler macht, während dies daheim beim Probediktat im ruhigen Wohnzimmer kaum vorkommt. Außerdem schildert sie auf Befragen durch den Arzt noch einige der folgenden Auffälligkeiten, die hier stark verkürzt wiedergegeben werden:
Das Kind ist von manchen Tätigkeiten leicht ablenkbar.
Es hat Aufmerksamkeitsprobleme, vor allem in der Schule.
Seine Kurzzeit-Merkfähigkeit ist nicht altersentsprechend.
Plosivlaute (b, d, g, k, p, t) werden nicht exakt unterschieden.
Das Kind hat oder hatte einen verzögerten Lautsprachaufbau.
Das Lesen und das (Recht-) Schreiben sind beeinträchtigt.
Zudem sind manche motorischen Funktionen beeinträchtigt.
Das Kind reagiert oft nicht auf Ansprache und wirkt geistesabwesend.
Es ist geräuschempfindlich und schon durch leise Geräusche ablenkbar.
Seine auditives Ortungsvermögen (sein Richtungshören) wirkt beeinträchtigt.
Seine Tonhöhen-Diskrimination ist nicht altersgerecht entwickelt.
Seine Artikulation klingt vor allem unter Belastung stark verwaschen.
Komplexere mündliche Anweisungen versteht es oft nur zeitverzögert.
Dem aufmerksamen Arzt fällt vielleicht noch auf, dass die Sprechlautstärke der Mutter etwa 10 dB höher liegt, als es situationsgerecht erforderlich wäre. Auch die Sprechlautstärke des Kindes hat sich auf diesen Pegel eingestellt. Beim Hinausgehen des Kindes zur audiometrischen Untersuchung bemerkt der Arzt noch dessen homolaterale Arm-Bein-Bewegungen. Auch der Muskeltonus des Kindes beim Händedruck scheint eher recht niedrig zu liegen. Die auf periphere Hörstörungen hindeutenden Angaben der Mutter werden natürlich sehr ernst genommen. Aber weder die Audiometrie, noch die Tympanographie oder die normale Messung der Stapedius-Reflexe ergeben irgendwelche Auffälligkeiten. Also kann der Arzt diese Mutter beruhigen, dass ihr Kind einwandfrei hört. Für das periphere Hören trifft das auch sicher zu. Aber dem Kind ist damit noch nicht ausreichend geholfen. Bei dieser Symptomhäufung ist eine zentrale Automatisierungsstörung mit Schwerpunkt in der Hörverarbeitung- und -wahrnehmung zu vermuten.
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